Wie Streaming die Auswertungsmechanismen zerstört

0 Shares
Was du im Beitrag erfährst:
  • Wieso die Auswertungsmechanismen der Musikindustrie veraltet sind
  • Welchen Einfluss dies auf die Charts und Edelmetall-Auszeichnungen hat
  • Wieso junge Hörer*innen enorm an Relevanz gewonnen haben

Streaming macht mittlerweile 70% des Umsatzes auf dem deutschen Musikmarkt aus. Doch mit dem Vormarsch dieser neuen Technologie kommen auch Probleme auf, denen die Industrie noch nicht unbedingt gewachsen scheint. Auswertungsmechanismen wie die Charts und die Vergabe von Edelmetall-Auszeichnungen sind Relikte aus einer Zeit der physischen Verkäufe, die mehr und mehr den Anschluss an die technologische Entwicklung verlieren. Woran das liegt, erklären wir hier.

Neue Zielgruppe

Insbesondere Rapmusik scheint hierzulande von der Entwicklung zu profitieren. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass eine bestimmte Zielgruppe durchs Streaming extrem an Relevanz gewonnen hat: Junge Menschen. Spielten Minderjährige aufgrund mangelnder Kaufkraft bisher eine eher untergeordnete Rolle, zeigt sich nun die wahre Schlagkraft dieser demographischen Gruppe. Sechs der zehn meistgestreamten Songs in Deutschland sind nämlich deutschsprachige Rapsongs. Zu streamen erfordert schließlich kein finanzielles Investment – somit beeinflussen junge Hörer*innen das Chartgeschehen massiv.

Charts ausgehebelt

Das System zur Ermittlung der Charts haben Rapper*innen aber ohnehin schon erfolgreich ausgespielt. Um die vorhandene Kaufkraft der Fanbase auszunutzen, brach gegen 2010 ein Hype um sogenannte Deluxe Boxen los. Sinn der Sache: Ein Exemplar eines Albums mit Beilagen bestücken und zu einem hohen Preis verkaufen. Die deutschen Charts werden von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) nämlich nach Umsatz ermittelt, nicht nach der Anzahl abgesetzter Exemplare. Eine verkaufe Box für 45€ erzeugt somit dieselbe Chartrelevanz wie drei Alben zu je 15€. Mit diesem Kniff sichern Rapper*innen sich noch heute regelmäßig die Chartspitze.

Single-Bundles

In den Singlecharts konnten Rapper*innen trotz ihrer Dominanz in den Albumcharts lange Zeit kaum Erfolge verzeichnen. Doch mit der Verbreitung von Streaming gewannen Singles immer mehr an Bedeutung. Während weniger streamingstarke Artists ihre Umsätze also weiterhin über physische Singleverkäufe erzielen, releasen Artists mit Streamingfokus regelmäßig Singles, die durch Playlists und andere Multiplikatoren dauerhaft rotieren. Da hält sich eine Erfolgssingle dann schonmal einige Monate in den Top 10. Zusätzlich bieten viele Rapper*innen neuerdings auch Single-Bundles an, die genau wie Deluxe Boxen funktionieren.

Goldene Schallplatten

Die bahnbrechenden Streaming-Erfolge vieler Rapper*innen brachten aber nicht nur die Charts an ihre Grenzen. Auch die Edelmetall-Auszeichnungen, die der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) verleiht, waren der Situation nicht gewachsen. Durch die monatelange Dauerrotation diverser Streaminghits musste der BVMI derart viele Auszeichnungen herausgeben, dass man sich entschied, einen radikalen Schritt zu gehen: Für die Vergabe von Goldenen (und anderen) Schallplatten werden Streams seit 2018 nur noch halb so stark gewertet

Wer darf was auswerten?

Dass die größten Umsätze mittlerweile online generiert werden, bringt noch ein Problem mit sich: Wer wertet eigentlich was aus? Die Auswertung von Streams liegt momentan bei den Vertrieben, die auch Plays auf Plattformen wie TikTok mit einbeziehen. Das könnte sich aber künftig ändern. Diesen relativ komplexen Sachverhalt haben wir bereits an anderer Stelle gründlich zusammengefasst.

Wie geht’s weiter?

Dass Charts nie eine besonders große Aussagekraft hatten, steht außer Frage. Dass die gängigen Auswertungsmechanismen dringend eine Reform benötigen ebenfalls. Willkürliche Schritte wie der des BVMI helfen da allerdings kaum. Spätestens wenn der Marktanteil physischer Verkäufe irgendwann in den einstelligen Bereich zurückgeht, müssen auf GfK und BVMI einsehen, dass auch sie ihren Fokus verschieben und zeitgemäße Maßnahmen ergreifen müssen, um die Relevanz und den Erfolg von Musikreleases abzubilden.

0 Shares